DOCUMENTA KASSEL 16/06-23/09 2007

d4 1968


Diskussionen und Kontroversen waren im Vorfeld der documenta 4 von 1968 bestimmend, wobei die Frage nach der Zukunft der documenta im Mittelpunkt stand. Die Politisierung der Gesellschaft in den späten 60er Jahren hinterließ auch bei der Kasseler Ausstellung ihre Spuren – rote Fahnen und Sprechchöre sorgten dafür, dass die Festreden zur Eröffnung ungehalten bleiben mussten. Aber auch in ihrer internen Organisation machten sich bei der documenta 4 ein Generationenkonflikt und die Auseinandersetzung um das fragile Verhältnis von ästhetischem Urteil und demokratischer Meinungsfindung bemerkbar. Die Organisation der Ausstellung war einem sogenannten documenta-Rat anvertraut. Am Ende der Vorbereitungen gehörten diesem Rat 24 Mitglieder an, die sich in verschiedene Arbeitsausschüsse (z.B. für Malerei, Plastik, „Ambiente“, usw.) aufteilten. Die Schwierigkeit der ästhetischen Urteilsfindung angesichts solch ausschussdemokratischer Verwaltungsstrukturen, und die teilweise sehr große Skepsis einiger älterer Mitglieder (darunter z.B. Werner Haftmann) an der Möglichkeit ästhetische Urteile im Konsens zu fällen, endete in der Sackgasse. Jean Leering, der junge Direktor des Stedelijk Van Abbemuseums Eindhoven, der nach dem Tod zweier Ratsmitglieder zum Vorsitzenden des Malerei-Ausschusses aufgestiegen war, nutzte diese Situation und wurde neben Bode zur entscheidenden Figur an der Spitze der Ausstellung.

Die d4 präsentierte sich im betonten Kontrast zu ihrer unmittelbaren Vorgängerin als „die jüngste documenta, die es je gab“. Es wurde auf jede Form der Retrospektive verzichtet, die Ausstellung konzentrierte sich ganz auf das aktuelle Kunstgeschehen der sechziger Jahre. Hierbei wurde der Vielfalt der künstlerischen Ausdrucksformen Rechnung getragen: Die d4 öffnete sich endgültig dem Primat der amerikanischen Kunst, die mit den Großformaten der Post-Painterly-Abstraction und der Farbfeldmalerei räumliche Dominanz bewies, aber auch mit Minimal Art und Pop Art ein neues Verständnis von Realitätsbezug ausformulierte, das Haftmanns These der „Weltsprache Abstraktion“ zum historischen Modell erklärte. Die neuentwickelte Abteilung der Künstler-Environments in der Neuen Galerie – künstlerische Erlebnisräume, in denen sich der Besucher bewegen kann und so, wie bei Edward Kienholz's „Roxy’s“ (1961), dem Nachbau eines amerikanischen Bordells der fünfziger Jahre, zum Verlassen des distanzierten Betrachterstandpunktes angehalten wird –wurden zur großen Attraktion der Ausstellung. Die inzwischen etablierte Präsentationsform der Plastik auf dem Freigelände vor der Orangerie wurde dergestalt verändert, dass auf jede architektonische Umfassung der Arbeiten verzichtet und diese in loser Gruppierung auf der Karlswiese abgestellt wurden. Christos „5600 Cubic Meter Package“ – 85 Meter hoch und selbstbewusst inmitten der Karlswiese platziert – war ein unübersehbares Wahrzeichen für aktuelles Kunstverständnis.

Angesichts der Spannbreite künstlerischer Ausdrucksformen, die von unterschiedlichsten Material- und Realitätsauffassungen und zunehmend von theoretischen Fragestellungen geleitet waren, erkannten die Ausstellungsmacher das Problem, dass sich auf Seiten der Betrachter die Rezeptionspraktiken in den letzten Jahrzehnten nicht verändert hatten. Um diese Distanz zwischen moderner Kunstproduktion und Rezeption zu verringern und um die Besucher nicht mehr sich selbst zu überlassen, wurde auf der documenta 4 erstmals eine „Besucherschule“ von Bazon Brock eingerichtet, in der den Besuchern ein Verständnis für Kunstbetrachtung als eigenständiger Arbeitsleistung nahegelegt und Aneignungstechniken für zeitgenössische Kunst beigebracht wurden.





 
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