DOCUMENTA KASSEL 16/06-23/09 2007

„Die glücklichsten Erfahrungen sind solche wie am Samstagnachmittag, als die Jungs freiwillig zur besten Fußballzeit wiedergekommen sind.“ - Claudia Hummel im Interview


Claudia Hummel hat bei der documenta 12 das Kinder- und Jugendprogramm aushecken geleitet. Sie hat Kunstpädagogik und Konzeptkunst studiert und war viele Jahre als Freischaffende in einem Künstlerkollektiv tätig. Die Grundidee von aushecken war es, die documenta an Kinder und Jugendliche zu vermitteln.


Claudia, was hast du vorher gemacht? Hattest Du schon Erfahrungen in der Kunstvermittlung oder mit ähnlichen Kinder- und Jugendprojekten?


An einem Museum selbst habe ich nie gearbeitet. Meine eigene künstlerische Arbeit lag aber immer an der Grenze zwischen Kunst und Gesellschaft. Und auch aushecken ist eine Arbeit zwischen Kunst und Gesellschaftsteilen. Eine wichtige Erfahrung war außerdem meine Tätigkeit für das Theater an der Parkaue in Berlin-Lichtenberg im letzten Jahr, wo ich die Winterakademie kuratiert habe. Bei diesem Format erarbeiten KünstlerInnen zusammen mit SchülerInnen innerhalb einer Woche eine künstlerische Produktion, die von beiden gleichermaßen gestaltet wird. In diesem Zusammenhang habe ich viel gelernt – wie Kinder und Jugendliche auf KünstlerInnen und künstlerische Ideen reagieren, wie sie begeistert Themen erarbeiten, für die im Schulalltag kein Platz ist.


Was ist das Konzept von aushecken?


aushecken ist, sich im Verborgen aufhalten und aus dem Verborgen heraus etwas erkunden und erproben. Dafür hatten wir zwei große Arbeitsräume im Außenraum zur Verfügung – das barocke Heckenkabinett der Orangerie und die Wiese dahinter, auf der wir drei Container aufgestellt haben. Eine Idee dabei war, sich mittels performativer Methoden den Raum des Heckenkabinetts zu erschließen. Eine weitere Idee bestand darin, den Möglichkeitsraum dessen, was aushecken alles sein könnte, mit eigenen Vorstellungen zu füllen. Diese Raumaneignungsstrategien und Denkbewegungen wurden anschließend auf die Ausstellung mit ihren Themen und Werken angewandt. aushecken hatte also viel mit dem Erkennen und Erproben von Möglichkeiten zu tun und das galt nicht nur für die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen, sondern auch für das gesamte aushecken-Team.

Es wurden hierfür unterschiedliche Formate angeboten. Es gab Programme für Kinder von Tagesgästen, von Freitag bis Sonntag, die drei Stunden dauerten und an das jeweilige Alter von sechs bis zwölf und von zwölf bis sechzehn angepasst waren. Ähnliche Programme gab es für Kinder- und Jugendgruppen aus Kassel und dem Umland, die in ihrer inhaltlichen Ausrichtung manchmal zusätzlich auf den institutionellen und sozialen Zusammenhang der Gruppe eingingen. Und ein drittes Angebot, die Schulprojekttage, richtete sich an Schulklassen.

Foto: Isabel Winarsch

Kannst du diese unterschiedlichen Formate genauer beschreiben?


Bei den Programmen für Kinder von Tagesgästen und für Kinder- und Jugendgruppen war die Idee, grundsätzlich performativ vorzugehen. Anfangs gab es zwei performative Formate, die das Konzeptionsteam von aushecken gemeinsam mit KunstvermittlerInnen der documenta 12 entwickelt hat. Zum Beispiel galt es, durch die Hecken zu schlüpfen, das Heckenkabinett ohne Hilfmittel zu vermessen oder Bewegungschoreografien darin zu entwerfen, um anschließend erzählerische Pfade zwischen den Werken der Ausstellung anzulegen. Im Laufe der 100 Tage wurden diese Formate dank der hohen Eigenmotivation der VermittlerInnen aber immer wieder variiert und Sonderformate entwickelt. Auch einige documenta 12 KünstlerInnen haben, auf meine Einladung hin, Projekte für aushecken erdacht. So ist aushecken wie die Beiratsaktivität und die gesamte Kunstvermittlung der documenta 12 zu einem evolutionären Prozess geworden.

Bei den Programmen für Schulklassen war dagegen die Idee, dass die SchülerInnen die documenta als System, Maschine oder Organismus kennenlernen, in dem viele, viele Leute arbeiten, mit Berufen, die nicht so leicht ersichtlich sind – wie GärtnerInnen, Leute die Vorhänge nähen oder das Licht einrichten oder FotografInnen, die die Ausstellung dokumentieren. Verbunden war dieses Format immer mit dem Interview mit einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin des documenta-Teams. Durch den Blick hinter die Kulissen sollte Zugang geschaffen und gezeigt werden, dass so eine große Ausstellung nichts Mystisches ist, sondern dass sie einen Alltag hat.

Zum Beispiel hatten wir uns überlegt, dass man einer Schulklasse die Frage stellt, wie, auf welche Weise und warum Kunstwerke auf der documenta kaputt gehen. Die Aufgabe war dann innerhalb einer Stunde zu solchen Situationen einen Comic zu machen. Zum Schluss hat eine Restauratorin im Interview mit der Klasse über Materialeigenschaften von Kunstwerken gesprochen, über die Problematik, dass Finger Schweiß absondern, der die Oberflächen von Kunstwerken angreift etc. So sind wir über die Frage nach der Fragilität von Materialien zum Inhalt der Werke vorgedrungen.


Ein exemplarisches Sonderformat wäre …

… zum Beispiel das Projekt Tricksen der Künstlerin Annette Krauss. Dabei wurde untersucht, wie man mit den AusstellungsbesucherInnen in Interaktion gerät, indem man in ihren Alltag interveniert. Auf der Suche nach anderen gangbaren Wegen auf dem documenta Gelände kroch beispielsweise ein Jugendlicher unter den Stühlen von Gästen eines Restaurants hindurch. Oder ein anderer verlor seine imaginäre Kontaktlinse und hatte bei der Suche ganz schnell viele HelferInnen zur Seite. Über eine so herausgeforderte Situation gerieten die Jugendlichen in die Interaktion mit fremden Personen. Vorbereitet wurden solche Aktionen über die Sensibilisierung für Alltagskonventionen und Gewohnheiten der Menschen, Beobachtungen, wie man sich üblicherweise an einem Ort bewegt und verhält.

So wie die Kunst, konfrontiert eben manchmal auch die Vermittlung die BesucherInnen. Und das ist Mittel und Methode, um den Kindern und Jugendlichen Selbstbewusstsein zu geben, um den Möglichkeitraum eines emanzipatorischen Prozesses zu öffnen. Genau beobachten, Mut haben Fragen zu stellen, seinen Handlungsraum erproben und erweitern.

Im Anschluss an solche Interaktionen ist die Gruppe dann in die Ausstellung gegangen. Dort haben die Jugendlichen selbst nach Kunstwerken gesucht, die ein Tricksen-Potenzial haben, wo KünstlerInnen das Regelwerk ihres Alltags durchbrechen. Und so haben sie ganz leicht die Methoden von KünstlerInnen wie Lotty Rosenfeld oder Jiří Kovanda dechiffrieren können.

Foto: Isabel Winarsch
Wenn Du jetzt eine Bilanz ziehen müsstest: Was wurde gut angenommen und was weniger? Was hat sich bewährt und was würdest Du beim nächsten Mal anders machen?

Gestern habe ich grad eine interessante Erfahrung gemacht: In einem Fotoworkshop mit der documenta 12 Künstlerin Lidwien van de Ven waren Jugendliche eingeladen, verschiedene religiöse Orte in Kassel zu besuchen und zu fotografieren. Danach haben wir sie noch in die Ausstellung eingeladen. Es war unglaublich, mit welcher Neugier, aber auch mit welchem Verständnis die Jugendlichen über die eigene Erfahrung des Fotografierens auf die Kunstwerke zugegangen sind. Mit dem Fazit, dass sie nicht genug kriegen konnten und jetzt am Samstag noch einmal wiedergekommen sind. Das zeigt, dass die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst besser funktioniert, wenn sie in eigene Handlungen eingebunden wird.

Die Vermittlungsformate von aushecken waren dann gelungen, wenn man nicht lernzielorientiert von A nach B ging. Wichtig war, vor allem bei den Kindern von Tagesgästen, dass sich sowohl eine Gruppe bilden konnte als auch, dass jeder seinen Platz darin fand, um eigene Gedanken zu äußern. Bewährt hat sich auch, im Rahmen der Vermittlungsformate weniger auf das Gestalten eines Produktes, das man dann nach Hause mitnehmen konnte, sondern auf das Erleben eines Prozesses zu setzen.

Was würde ich verändern? Ein Kinder- und Jugendprogramm auf der documenta wie aushecken sollte in Zukunft auf zwei Ebenen passieren. Das heißt, das nächste Mal würde ich für Kinder und Jugendliche Programme anbieten und darin noch verstärkt Erwachsene, wie ErzieherInnen, SozialpädagogInnen oder auch Eltern mit einbinden. Es können so nämlich Ansätze gemeinsam erprobt und Leidenschaften geweckt werden, die dann fortgeführt werden und einen erweiterten Handlungsraum aller Beteiligter schaffen.

aushecken war das erste Programm für Kinder- und Jugendliche überhaupt auf einer documenta. Ist das eine Setzung gewesen in Bezug auf die Folgeveranstaltungen aber auch auf andere Museums- und Ausstellungsprojekte?

Ja, das war das erste Mal, dass es ein Kinder- und Jugendprojekt gab und es war auf dieser documenta mit ihrem Vermittlungsanspruch sicher eine Notwendigkeit. Aber ich kann nur hoffen, dass auch die documenta 13 Kindern und Jugendlichen wieder einen Raum anbietet, um sich mit zeitgenössischer Kunst auseinanderzusetzen.

Generell ist es in jedweder Art notwendig, an den unterschiedlichsten Institutionen für zeitgenössische Kunst den Kindern und Jugendlichen Programme anzubieten. Man sollte die Kunst als Anlass nehmen, als Impulsgeberin, um zusammen etwas zu erfahren, zu denken und zu sprechen. Kunstvermittlung kann so zu einer Art demokratischen Gesprächskultur führen, um gesellschaftliches und soziales Miteinander zu untersuchen und zu verhandeln. All das kann mit Kindern und Jugendlichen genauso wie mit Erwachsenen geschehen. Aber das war jetzt schon die Vision.

Was nimmst du an persönlichen Erfahrungen aus dieser Arbeit hier mit?

Persönliche Erfahrungen – da gibt es viele. Es war eine große Chance, mich über Monate hinweg über die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen mit der Kunst auseinanderzusetzen. Ich habe so eine Vielzahl an unterschiedlichen Perspektiven kennengelernt und Dinge gesehen, die ich ohne die Kinder übersehen hätte. Ich hab es genossen, mit den KunstvermittlerInnen und KünstlerInnen hier zusammenzuarbeiten. Und die glücklichsten Erfahrungen sind solche, wie gestern, am 95. Tag der documenta, als sich die Jungs aus Bettenhausen, die noch nie zuvor eine Kunstausstellung besucht haben, entschlossen haben, freiwillig am Samstagnachmittag, zur besten Fußballzeit wiederzukommen. Die Arbeit über das WM-Endspiel von Harun Farocki haben wir natürlich auch angeschaut.

Vielen Dank für das Gespräch.


Das Gespräch führte Claudia Jentzsch.







 
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