DOCUMENTA KASSEL 16/06-23/09 2007

„Spannend wird's, wo es schwierig wird“ - Interview mit Carmen Mörsch


Wer bei der documenta 12 eine Führung unter der Voraussetzung bucht, alles vom Vermittler im Sinne eines Dienstleisters erklärt zu bekommen, könnte überrascht werden. Carmen Mörsch hat das Konzept der Kunstvermittlung der documenta 12 gemeinsam mit Ulrich Schötker, dem Leiter der Vermittlung, entwickelt. Während der 100 Tage betreut sie die Kunstvermittlung im Rahmen eines Forschungsprojekts der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Im Interview erläutert sie das Konzept.

© Julia Fuchs/documenta GmbH


Carmen Mörsch, was ist das Besondere an dem Vermittlungskonzept der documenta 12?

Ausgangspunkt ist das dritte Leitmotiv der documenta 12 Was tun?, das sich mit ästhetischer Bildung auseinandersetzt. Die wiederum erfordert dialogische Formate und kein reines Aneignen von Fakten. Es soll keine „definitive Wahrheit“ vermittelt werden. Stattdessen möchten wir die Besucher ermuntern, sich selbst am Deutungsprozess zu beteiligen. Dabei arbeiten die VermittlerInnen mit sehr heterogenen Ansätzen, die sie selbst konzipiert haben; mit ganz verschiedenen Stilen also. Darüber hinaus arbeiten wir selbstreflexiv, weshalb die VermittlerInnen ihr eigenes Format häufig transparent machen. Sie klären die Teilnehmer einer Führung darüber auf, welche Methode sie anwenden oder wann sie sie wechseln.

Wie kann man sich das praktisch vorstellen?

Es gibt eine breite Palette von Varianten, die stark differieren, abhängig von den persönlichen Hintergründen der VermittlerInnen. Wir haben von klassischen Kunsthistorikern, die viel Faktenwissen vermitteln, bis hin zu Leuten, die selbst aus der Kunst kommen und die eher performative, spielerische Herangehensweisen ausprobieren, unterschiedlichste Zugänge. Schon die kuratorische Setzung der Migration der Formen schlägt vor, sich der Kunst anzunähern. Man kann die Besucher bitten, sich zunächst durch den Ausstellungsraum zu bewegen und eigene Korrespondenzen zwischen den Arbeiten zu finden. Davon ausgehend, steigen viele VermittlerInnen in eine spannende Auseinandersetzung mit dem Publikum ein.


„Viele Besucher halten uns für ein Speed-Getränk.“


Wie kommt das Konzept an – nach einem Monat documenta 12?

Das Konzept läuft insgesamt hervorragend. Wir sind überbucht und so stark nachgefragt wie noch nie auf einer documenta.

Könnten bei dieser Art der Vermittlung nicht Fakten auf der Strecke und Erwartungen unerfüllt bleiben?

Man wird nie alle gleichermaßen zufriedenstellen können [sie lacht, bevor sie weiterspricht]. Viele Besucher halten uns für ein pushendes Speed-Getränk, wie es eine Team-Kollegin formuliert hat. Sie kommen mit der Erwartung, in noch kürzerer Zeit noch mehr zu erfahren. Und dann bekommen sie „nur“ den heißen Tee, den man in Ruhe genießen muss, wenn man sich nicht die Zunge verbrennen will. Ja, einige Leute sind auch enttäuscht. Verglichen mit der Masse von Ausstellungsbesuchern, bleiben die Frustrationsmomente allerdings gering. Viele sind erst überrascht, lassen sich dann aber auf das Angebot, etwas anderes als frontale Wissensvermittlung auszuprobieren ein und sind am Ende oft begeistert. Wenn es Klagen gibt, liegt es meist daran, dass der Ansatz der VermittlerIn nicht mit den Erwartungen der Gruppe übereingestimmt hat. Entweder heißt es, eine Dienstleistung wurde nicht erfüllt, zu wenig autorisiertes Wissen geliefert oder aber die Vermittlung war nicht experimentell genug.

Carmen Mörsch: „Inhaltliche, produktive Reibungen sind gewollt – in der Kunstvermittlung wie in der Ausstellung!“ - © Julia Fuchs/documenta GmbH

Gibt es dennoch Gruppen, die auf eine klassisch-monologische Führung bestehen?


Kein Format ist im Vorhinein buchbar. Aber die Leute haben die Möglichkeit, Wünsche zu äußern. Das betrifft sowohl Themen als auch Formate. Man kann sagen, wofür man sich besonders interessiert. Die Grenzen zwischen den einzelnen Formaten sind fließend. Einige Vermittler wechseln auch während der Führung oder verknüpfen die Formate. Diese Offenheit des Geschehens sollte bleiben, aber nicht zu einem reinen Dienstleistungsangebot führen. Die Zumutungen, die damit manchmal einhergehen, gehören zu unserem Ansatz dazu: Eine Öffentlichkeit herstellen bedeutet auch, Konflikte auszutragen.

Forschen Sie auch an der Universität Oldenburg zur Kunstvermittlung?

Ich bin seit drei Jahren im Bereich Kulturwissenschaften für kulturelle Bildung zuständig. Davor lag mein Schwerpunkt auch schon auf Vermittlung von Gegenwartskunst und Formen der Kunstvermittlung. Wichtig ist mir vor allem, dass man der Komplexität von Gegenwartskunst gerecht wird und Kunstvermittlung als kritische, eigenständige Praxis versteht.

Sind die Offenheit der Formate und der Anspruch der aktiven Beteiligung der Besucher bei der documenta 12 innovativ oder handelt es sich um einen allgemeinen Trend in der Vermittlung?

Als „innovativ“ würde ich uns nicht bezeichnen. Wir sind eher ein Symptom für die wachsende Bedeutung des Berufsfeldes, für dessen Professionalisierung, Theoretisierung und Ausdifferenzierung. Im letzten Jahrzehnt hat es eine verstärkte Theorieproduktion gegeben. Wir nutzen die Energie, die sich aus dieser Diskussion um die Kunstvermittlung und ihre gesellschaftliche Relevanz entwickelt hat. In anderen Ländern ist man in der Praxis teilweise schon weiter als in Deutschland; sehr professionalisiert ist z.B. Großbritannien.

In welcher Form werden die Erkenntnisse Ihrer Begleitforschung ausgewertet?


Sie werden in einer Studie veröffentlicht – so auch die Ergebnisse von 17 Projekten, die einzelne VermittlerInnen gemeinsam mit dem Beirat mit der lokalen Bevölkerung durchführen. Wir planen eine umfassende Publikation, die die Vielschichtigkeit unserer Arbeit für eine größere Öffentlichkeit übersetzt. Vor allem das sich gerade entwickelnde Berufsfeld soll davon profitieren.

Haben Sie während Ihrer Zeit hier in Kassel schon Anregungen zu weiterführenden Forschungsfragen gefunden?

Ja, ich möchte mich im Zusammenhang mit der documenta 12 Vermittlung gern der Frage nach dem Spannungsverhältnis von Kunstvermittlung und Dienstleistung widmen. Mich interessiert die Herausforderung, die dabei entstehen kann und wie man solchen Konflikten begegnet. Zudem interessiert mich der offensive und denormalisierende Umgang mit, von der Öffentlichkeit als „pornografisch“ empfundenen Arbeiten, mit latenter Homophobie und Rassismus in der Rezeption der Ausstellung. Zur antirassistischen und antisexistischen Bildungsarbeit kann eine Kunstvermittlung, wie sie mir vorschwebt, einen wichtigen Beitrag leisten.

Vielen Dank für das Gespräch.


Die Fragen stellte Claudia Jentzsch.


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