
Wie viele rosa Spitzenschuhe vertragen (neo-)avantgardistisch angelegte Tanzaufführungen heutzutage?
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In Yvonne Rainers AG Indexical, with a little help from H.M. (2006) trägt zumindest Emily Coates die Hälfte der Zeit über solche Spitzenschuhe – im Gegensatz zu ihren sportlich besohlten Mitstreiterinnen Sally Silvers, Pat Catterson und Patricia Hoffbauer. In den zentralen Gruppenkompositionen wird die ehemalige Prima Ballerina des New York City Ballet dabei unterstützt, Beine und Füße in die richtige Position zu bringen. Mal wird eine Pirouette gedreht, mal wird im Pas de Trois das Bein zu einer Brücke, unter der eine Tänzerin hindurchkriecht. An anderen Stellen sind die Performerinnen derweil mit Stretching-Übungen beschäftigt.
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Die Performance ist an das von Igor Strawinsky komponierte Ballett Agon (1957) angelehnt. Neben den amüsanten Gruppenformationen finden sich zu Beginn und am Schluss des Stückes aber auch Bewegungsmuster, die eindeutig den klassischen Stil des Agon-Choreografen George Balanchine erkennen lassen – nur erklingt am Ende Henri Mancinis Theme from Pink Panther.
Dass zu einer Aufführung Virtuosität genauso wie mediale Wirksamkeit gehört, hatte bereits der späte Balanchine verstanden: In den 1960er Jahren konzipierte er seine New-York-Ballet-Choreografien speziell mit Blick auf die aufzeichnenden Fernsehkameras. AG Indexical verweist geradezu parodistisch auf die authentisierende Bedeutung von Aufzeichnungen als Indizes ihrer eigenen Vorbildlichkeit. Zweimal wird ein Monitor auf die Bühne gebracht, der eine historische Aufnahme von Agon zeigt – inklusive schlechter Tonqualität. Diese dient als Referenz und Übungsvorlage zugleich, wenn dem Publikum die ‚vorbildliche‘ Vorstellung samt klassischer Ballettröcke gezeigt wird; oder wenn die konzentrierte, angestrengte Grimassen schneidende, Sally Silvers die Schritte nachahmt – mit Blick auf den Bildschirm. Sogar der Applaus für ihr slapstickartiges Auftreten kommt schließlich aus dem TV selbst.
Dass zu einer Aufführung Virtuosität genauso wie mediale Wirksamkeit gehört, hatte bereits der späte Balanchine verstanden: In den 1960er Jahren konzipierte er seine New-York-Ballet-Choreografien speziell mit Blick auf die aufzeichnenden Fernsehkameras. AG Indexical verweist geradezu parodistisch auf die authentisierende Bedeutung von Aufzeichnungen als Indizes ihrer eigenen Vorbildlichkeit. Zweimal wird ein Monitor auf die Bühne gebracht, der eine historische Aufnahme von Agon zeigt – inklusive schlechter Tonqualität. Diese dient als Referenz und Übungsvorlage zugleich, wenn dem Publikum die ‚vorbildliche‘ Vorstellung samt klassischer Ballettröcke gezeigt wird; oder wenn die konzentrierte, angestrengte Grimassen schneidende, Sally Silvers die Schritte nachahmt – mit Blick auf den Bildschirm. Sogar der Applaus für ihr slapstickartiges Auftreten kommt schließlich aus dem TV selbst.

Dass jede neue Aufführung als Interpretation zum (integralen) Bestandteil des Originalen wird und seine Geschichte mitschreibt, wird im zweiten Stück RoS Indexical, das auf der documenta 12 Premiere hat, noch deutlicher. So kommentiert die die Performance eröffnende Tonspur die Situation, bevor sich der Vorhang hebt: „There’s no turning back! And remember: whatever happens: keep going!“ Auf diese Aufforderung hin folgt wiederum ein eingespielter Applaus. Die vier Tänzerinnen treten auf, nehmen an einem Tisch Platz, setzen Kopfhörer auf und summen zunächst vor sich hin.
Auf diese Weise lauschen wir zum ersten Mal dem bekannten musikalischen Motiv, das 1913 für Furore sorgte, als Strawinskys Le Sacre du Printemps (das Akronym „RoS“ steht für „Rite of the Spring“) unter der Choreografie von Wazlaw Nijinsky uraufgeführt wurde – und noch niemand ahnte, dass Le Sacre zum Meilenstein der Ballettgeschichte werden sollte.
Doch wo ist heute das „animalische“, „primitive“ Bewegungsrepertoire des Sacre, das auf Rückgriffe vorchristlicher Rituale beruhte? Was ist mit der Mädchen-Opferung an die Erde? Rainers Tänzerinnen wollen sich etwa bei den Wiederholungen des legendären Ostinatos lieber aufs Sofa setzen; die Beine ausstrecken, statt heidnisch geopfert zu werden. Nijinskys Bruch mit klassisch-anmutendem Ballett durch die Betonung auf Maße und Körperlichkeit setzt Rainers RoS Indexical, vom Sofa aus, machohaften Flirt mit dem Publikum entgegen. Wenn die Tänzerinnen aber gar ihre Füße in Blumen-gemusterte Kleenex-Pappschachteln stecken und zweiseitig bedruckte schwarze Fahnen von der Decke herabgelassen werden, mit Beschriftungen wie „if not now/when?“; „sofa/terror“„Who? Me?/refrain“, „change/keep“, „taste/fixate“ – spätestens da stehen empörte ZuschauerInnen auf. „Wie kann man hierfür Geld verlangen?“, fragt eine elegante blonde junge Frau, bevor sie mit vielen anderen entrüstet zur Bühne geht. „Zurück nach New York!“, rufen andere.
Auf diese Weise lauschen wir zum ersten Mal dem bekannten musikalischen Motiv, das 1913 für Furore sorgte, als Strawinskys Le Sacre du Printemps (das Akronym „RoS“ steht für „Rite of the Spring“) unter der Choreografie von Wazlaw Nijinsky uraufgeführt wurde – und noch niemand ahnte, dass Le Sacre zum Meilenstein der Ballettgeschichte werden sollte.
Doch wo ist heute das „animalische“, „primitive“ Bewegungsrepertoire des Sacre, das auf Rückgriffe vorchristlicher Rituale beruhte? Was ist mit der Mädchen-Opferung an die Erde? Rainers Tänzerinnen wollen sich etwa bei den Wiederholungen des legendären Ostinatos lieber aufs Sofa setzen; die Beine ausstrecken, statt heidnisch geopfert zu werden. Nijinskys Bruch mit klassisch-anmutendem Ballett durch die Betonung auf Maße und Körperlichkeit setzt Rainers RoS Indexical, vom Sofa aus, machohaften Flirt mit dem Publikum entgegen. Wenn die Tänzerinnen aber gar ihre Füße in Blumen-gemusterte Kleenex-Pappschachteln stecken und zweiseitig bedruckte schwarze Fahnen von der Decke herabgelassen werden, mit Beschriftungen wie „if not now/when?“; „sofa/terror“„Who? Me?/refrain“, „change/keep“, „taste/fixate“ – spätestens da stehen empörte ZuschauerInnen auf. „Wie kann man hierfür Geld verlangen?“, fragt eine elegante blonde junge Frau, bevor sie mit vielen anderen entrüstet zur Bühne geht. „Zurück nach New York!“, rufen andere.
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RoS Indexical vermischt verschiedene narrative Fragmente, wobei hier neue Interdependenzen zwischen Musik, visueller Umsetzung und Bewegung ausgesucht werden. Losgelöst changieren die Bühnenbewegungen zwischen Stummfilm-Posen der göttlichen Sarah Bernhard, dem Mimen von Steinwürfen ins Publikum, Grimassen à la Groucho Marx, einem Davontragen des „Opfers“ seitens zweier folkloristisch kostümierter Statisten und Textfragmenten mit Bezug auf das Hier-und-jetzt. Die verbalen Tonspuren, Publikumsangriffe und die Musik selbst stammen tatsächlich aus dem Drama Riot of Rite – eine 2006 für die BBC realisierte Rekonstruktion der Erstaufführung des Sacre. RoS Indexical reflektiert somit eher den Ritus des Skandals und seiner medialen Bedeutung als denjenigen von Strawinskys Frühling.
Zielte das 1962 von Rainer mitbegründete Judson Dance Theater, mit der unmittelbaren Einführung von Alltäglichem in die Kunst, auf eine Sensibilisierung für den Realraum und die eigene Körperlichkeit, so gilt das in die neuen Stücke eingebrachte, heterogene Material als Ausgangspunkt für eine Reflektion über die konstitutiven Elemente einer Aufführung: die (Ein)Stellung des Publikums, die Individualität der Interpreten, die mediale Umsetzung, die hervorgerufenen Assoziationsketten. Angefangen bei den Spitzenschuhen.
Zielte das 1962 von Rainer mitbegründete Judson Dance Theater, mit der unmittelbaren Einführung von Alltäglichem in die Kunst, auf eine Sensibilisierung für den Realraum und die eigene Körperlichkeit, so gilt das in die neuen Stücke eingebrachte, heterogene Material als Ausgangspunkt für eine Reflektion über die konstitutiven Elemente einer Aufführung: die (Ein)Stellung des Publikums, die Individualität der Interpreten, die mediale Umsetzung, die hervorgerufenen Assoziationsketten. Angefangen bei den Spitzenschuhen.
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Elena Zanichelli