DOCUMENTA KASSEL 16/06-23/09 2007

„Für mich bedeutet Fotografieren auch eine Form von Recherche“

Die documenta 12 Künstlerin Lidwien van de Ven im Interview


Installation view. Foto: Lidwien van de Ven

Lidwien, deine Fotos und Plakate in der Installation „document“ (2007) implizieren visuelle Bildung und politisches Wissen. Erwartest du von den BesucherInnen, dass sie die politischen Situationen aus der jeweiligen Zeit wiedererkennen?


Bis zu einem gewissen Grad ja. Ich erwarte nicht von jedem alles zu wissen, was man wissen könnte oder Verbindungen zwischen den jeweiligen Themen zu ziehen, aber die Themen kommen allgemein genommen fast täglich in unseren Medien vor. Und oft haben wir auch eine irgendwie persönliche Verbindung zu diesen Angelegenheiten.

Aus einem grundsätzlichen Interesse an Politik und Religion heraus verfolge ich die politischen und sozialen Entwicklungen zur westeuropäischen Migranten-Gesellschaft jetzt schon seit dem Ende der Neunzigerjahre. Seit 2001 werden Politik und Religion immer prominenter vermischt, wobei es einen speziellen Fokus auf den Islam gibt. Die Ereignisse, die auf den Fotos gezeigt werden, sind ziemlich bekannt – wie zum Beispiel die dänischen Karikaturen oder die anhaltende Debatte über den islamischen Schleier. Die von den Medien beeinflusste Begegnung mit dem Islam in unserer heutigen Gesellschaft, der Einfluss des Krieges gegen den Terror auf die hiesigen Entwicklungen und all die neuen Gesetze, die unter dem Schutzschild von Sicherheit und Schutz initiiert werden, machen nun einen substanziellen Teil unserer Politik aus. Gleichzeitig bin ich in verschiedene Länder im Nahen Osten gereist, auch wenn die meisten der Bilder aus dieser Region, mit denen ich in document arbeite, in Jerusalem und der West Bank aufgenommen wurden.

Wir „wissen“ von all diesen Themen, aber gleichzeitig wissen wir konkret oft sehr wenig. Dennoch entnehmen wir unsere Ansichten von der Welt aus den Medien und sie geben uns das Gefühl, informiert zu sein. Dieses kollektive Wissen zusammengenommen mit der visuellen Mediensprache verhält sich komplementär zu den Bildern, die ich in diesem Projekt zeige.

Installation view, 16/06-19/07. Foto: Nils Klinger

Mit zusätzlichen, beschreibenden Stichworten versehen, trägt jedes Foto den Entstehungsort und das Datum im Titel, wie etwa „demo Danish cartoons“ or „Allah, Vlams blok“, damit scheinst du dich auf archivarische Methoden zu beziehen. Auch die Motive, die du ausgewählt hast, unterscheiden sich von Pressefotografie, die immer das Abgebildete beschreiben oder sogar interpretieren würde. Der Moment der Aufnahme hingegen wirkt bei dir nicht aufregend oder spektakulär, sondern demonstriert eine Art andauernde Aktualiät.


Ja, die Titel aller Fotografien (außer einem) setzen sich aus Ort und Datum zusammen. Sie formen eine konzeptuelle Linie des Wo und Wann, verweisen aber auch auf den Kontext eines Bildes. Die Untertitel, die in der Zeitung und der Übersicht in der Installation, leiten sich aus meinen persönlichen Notizen ab, aber es hat sich herausgestellt, dass sie auch einen guten zusätzlichen Indikator liefern, um das Foto in einem breiteren Zusammenhang zu platzieren. Außerdem bieten sie einen subtileren Weg, um dich zu Themen zu führen, die in sich relativ kontrovers sind, und wo sogar der Name eines Ortes einen politischen Standpunkt bedeuten kann.

Manche meiner Fotos mögen sich von einigermaßen spektakulären Hintergründen ableiten, zeigen das aber nicht. In der Pressefotografie gibt es oft die Forderung nach einem sehr spezifischen Bild, das sein Thema im Bruchteil einer Sekunde präsentiert und illustrativ ist für den begleitenden Text. Ich setze meine Linien durch den Inhalt und akzeptiere oft visuelle Blindheit. In der Realität ist es viel häufiger der Fall, dass die spektakulären Aspekte der Realität nicht gesehen oder gar nicht fotografiert werden können. Fotografie ist ein enthüllender Spiegel sowohl für unsere Gesellschaft als auch für unsere kulturelle Beziehung zur (Un-)Sichtbarkeit.

Als ich diese spezifische Installation aufgebaut habe, wurden das Visuelle und der Inhalt noch einmal neu adressiert. Der visuelle Einfluss und die vielfache Verbundenheit eines Bildes ist wichtig für mich. Daher lohnt es sich, längere Zeit ein Bild anzugucken und eine komplexere, vielschichtigere Verbindung zwischen den verschiedenen Bildern zu ermöglichen.

Fordern deine Fotos also eine spezifische Zeitlänge für den Wahrnehmungsprozess ein?


So viel, wie du bereit bist, damit zu verbringen, aber für mich ist es wichtig, dass die Arbeit sich weiterentfalten und dich mit den spezifischen Themen, die in jedem einzelnen Foto angesprochen werden, verbinden kann.  

Ich finde es sehr interessant, wie du die Tatsache kommentierst, dass die documenta in Deutschland stattfindet, indem du zwei sehr aktuelle Artikel wieder abdruckst, die Revision einfordern, wie das „Manifest der 25“, in dem vorgeschlagen wird, die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel zu überdenken, und einen Artikel von Azmi Bishara (zuerst erschienen in Al-Ahram Weekly), in dem die verschiedenen Arten, den Holocaust zu leugnen, analysiert werden.

Das Wesentliche war für mich die Verbindung zwischen Europa und der Situation von Israel/Palästina im Nahen Osten. Wir nehmen die Situation so oft als zwei verschiedene Geschichten wahr, sie sind es aber nicht. Wir sind ziemlich nahe dran, damit verbunden zu sein. Beide Texte drücken diese Beziehung aus und fragen nach neuen Wegen der Betrachtung, um dies auf den Holocaust zu beziehen.

Wie kam die Auswahl der Fotografien in deiner Installation „document“ zustande? Alle, die in der Ausstellung zu sehen sind, wurden zwischen 2000 und 2006 aufgenommen. Vermutlich hast du wesentlich mehr Bilder zur Auswahl?


Zwischen 2000 und 2006 habe ich in Westeuropa und im Nahen Osten gearbeitet und meine Fotos entwickelten sich vor diesem Hintergrund. Basierend auf zwei thematischen Strängen – Politik und Religion – habe ich Verbindungen zu spezifischen Themen, Orten und Ländern gezogen und weiterverfolgt, indem ich mich eingelesen und sie in Bezug zu ihrem größeren Kontext gebracht habe. Ich habe die Debatten und politischen Entwicklungen ziemlich genau verfolgt, die wir jetzt in Bezug auf die Migranten-Gesellschaft bezeugen als auch die (neuen) politischen Entwicklungen unter dem Einfluss von Angst vor Terror.

Für mich bedeutet Fotografieren auch eine Form von Recherche, einen Weg zu verstehen, worauf du dich beziehst. Ich finde es besonders wichtig, zu reisen und physisch die Distanz zwischen hier und dort zu überbrücken. Es ist auch eine Möglichkeit, zu den Ursprüngen der Bilder zu reisen, die wir so oft sehr gut aus den Medien kennen, die aber nur wenig von der dahinterliegenden Realität repräsentieren. Als Fotografin bist du auch sehr direkt mit unserer Kultur, ihren Ideen und Gesetzen rund um Sichtbarkeit konfrontiert.

So werden alle Bilder zusammen mit der Recherche wie ein Archiv, aus dem ich dann die Fotos aussuche, mit denen ich eine Installation erarbeite. Die Installation selbst zu konzipieren, ist wieder ein neuer Prozess, in dem Form und Inhalt, und genauer, spezifische Fragen und spezifische Situationen, in ein Gleichgewicht zueinandergebracht werden.


Installation view, 16/06-23/06. Foto: Nils Klinger

Warum hast du dich bei den meisten großformatigen Plakaten für Schwarz-Weiß entschieden und einige in Farbe abgezogen? Entspricht das Format fast der realen Größe?


Eigentlich bin ich Schwarz-Weiß-Fotografin. Seit ein paar Jahren arbeite ich auch mit Farbfotografie. Und allmählich nehmen die Farbfotos ihren Platz in den Installationen ein. Normalerweise kenne ich den Raum, für den ich arbeite, schon lange vorher und erarbeite mir vorsichtig Bild, Inhalt, Größe und Präsentationstechniken. Für mich ist diese Arbeitsweise wie eine Sprache.

Andererseits ist das große Format auch sehr wichtig in seiner direkten Wirkung. Es ermöglicht es dir, ein Bild aus der Nähe anzusehen. Es nimmt Details aus ihren Schatten hervor und könnte Dinge eröffnen, die du in einem kleinen Format nie finden könntest. Das ganze Bild wird zu einer Form des Reisens. Zum Beispiel auf dem Bild Jerusalem, 24/04/2006 (graveyard/Danish flag). Auf den Gehweg des Friedhofs ist eine dänische Flagge gezeichnet, die in der Vergrößerung sehr gut sichtbar wird. Oder London, 04/09/2004 (Hijab Solidarity Day), wo die Protestlieder, die von den Frauen gesungen werden, Wort für Wort abzulesen sind, genauso wie ihren kleinen Zettel, auf denen steht: „Eine andere Welt ist möglich“. Aber es können auch andere Details sein, ein Text auf einem Banner, die Marke eines T-Shirts, ein Foto auf einer Wand. Es ermöglicht dir, ganz genau in das Bild hineinzusehen.


Installation view, 07/07-18/07. Foto: Nils Klinger

Würdest du zustimmen, dass deine Installation im Museum Fridericianum einen zweiseitigen Raum schafft: Die kleinen gerahmten Fotografien formen eine Linie, dein Repertoire. Die großen Poster formen die Bühne, treten in einen Dialog, in eine spezielle Verbindung zueinander.


Sie sind in verschiedenen, aber verbindenden Teilen aufgebaut. Die kleine Abzüge zusammen mit der Publikation bieten eine Möglichkeit, sich mit dem zu verbinden (auf verschiedene Weise), was sich in den 100 Tagen entwickelt.

Würdest du auch zustimmen, dass die weißen Poster als blinde Flecken gelesen werden könnten, als Repräsentant der Unmöglichkeit jeden Aspekt einer politischen Situation verstehen zu können? Oder stehen sie für einen Bruch mit der heutigen Überfülle an Bildern?

Es ist ein Mittel, die ganze Installation in einem Prozess zu behalten und die Situation aus der Gegenüberstellung in eine andere erwachsen zu lassen, um dabei Bilder aus verschiedenen Hintergründen zu verbinden. Es ist auch ein Weg, dem Nicht-Bild eine physischen Umriss zu geben und verschiedene Medien (Fotografie/Malerei) anzusprechen. Die abwesenden Bilder sind genauso wichtig in der Installation wie die sichtbaren. Dies kann ein blinder Fleck sein oder Dinge, die wir nicht verstehen, genauso wie ein Bruch mit der Überfülle an Bildern heute, aber gleichzeitig ist es auch ein konstruktiver Teil, der den Prozess in Bewegung hält.

Und du versuchst mit deiner Arbeit diesen Verbindungen eine visuelle Oberfläche zu geben? Du bildest ein Rasterfeld?

Es gibt ein zugrundeliegendes Raster, in das diese Bilder eingebettet sind, aber die Installation kann immer als eine bestimmte Situation betrachtet werden sowie als Abfolge verschiedener Situationen.

Das erste Bild zum Beispiel, das du siehst, wenn du den Raum betrittst, ist wie der Einstieg zu einem Kapitel, das mit Europa beginnt (Paris, 26/12/2006 (Liberté, Egalité, Fraternité)); in einem späteren Stadium wird das Bild Yarmouk River, 20/01/2004 (border/Golan/Yarmouk Battle Site) gezeigt, wo die Grenze zwischen Syrien und Jordanien zu sehen ist, die Europas Vergangenheit im Nahen Osten markiert, nämlich ihn in verschiedenen Nationen aufzuteilen. Gleichzeitig ist es ein wichtiger Ort für die islamische Geschichte und gegenwärtig verweist er auf Israels Besetzung der Golan Höhen. Das letzte Bild wird ein Foto von einem Graffiti in der Jerusalemer Altstadt sein, das weiß übermalt wurde. Dessen Text ist bis auf das Wort „Nation“ nicht mehr lesbar.
Im größeren Raum baut sich die Narration durch die ungefähr 30 verschiedenen Bilder in großen Formaten auf, die von einer Konstellation in eine andere übergehen.

Lidwien van de Ven 'Jerusalem, 24/04/2006'.

Was denkst du über die Arbeiten von Peter Friedl, Ahlam Shibli oder Abdoulaye Konaté, die sich auch auf den Israel-Palästina-Konflikt beziehen? Du hast auch ein Foto in Qaliqiliya aufgenommen, der Stadt, aus der Friedls ausgestopfte Giraffe kommt.


Qalqiliya ist einer der Orte in der West-Bank, der fast komplett von der „Verteidigungsmauer“ umgeben ist. Dadurch wurde fast alle Landwirtschaft zerstört sowie die Verbindungen zur restlichen West-Bank. Was der Politik in der West-Bank entspricht, das ganze Land in kleine Einheiten aufzuteilen und es dadurch unmöglich zu machen, irgendeine Art von Gesellschaft aufzubauen.

Peter Friedl hat einen Weg gefunden, dies anzusprechen, und als ich zum ersten Mal von seiner Idee hörte, war ich ziemlich beeindruckt, dass es ihm gelungen war, das zu realisieren. Es ist wirklich schwierig sich dort zu bewegen oder überhaupt für irgendetwas eine Genehmigung zu bekommen. Ich denke, bei dieser Giraffe geht es nicht so sehr um die Giraffe, sondern was mit ihr zusammenhängt: Die Realität, die auch den Tod von Brownie verursacht hat, aber auch die Reise der Giraffe nach Kassel und später wieder zurück nach Qalqiliya oder wie unsere Reaktionen abweichen, wenn es sich um ein Tier handelt (statt Bombe, Kinder, Soldaten), das diesen Konflikt vermittelt.

Verschiedene Zugänge ergeben einen Sinn. Ich könnte nicht tun, was zum Beispiel Ahlam Shibli als Palästinenserin, die in Haifa lebt, macht, weil ich ihre Perspektive gar nicht einnehmen könnte. Und genauso sie meine nicht. Ich denke, es ist eine Strategie, die sich durch die ganze documenta zieht, dass dir keine absoluten/solitären Schlüsse oder Standpunkte angeboten werden, sondern du kontinuierlich zu ähnlichen Thematiken befragt und wieder befragt wirst. Sie alle verbinden sich auf die eine oder andere Weise mit Ethik und Ästhetik. Also adressieren sie in diesem Sinne die Teilnahme und Relevanz von Kunst heute. Die hat nicht eine oder gar die richtige Antwort. Aber es ist wichtig, diese Frage zu stellen.

Installation view, 29/07-03/08. Foto: Nils Klinger

Wie wichtig ist die symbolische Politik in deinen Fotos? Ist es auch ein Kriterium für dich, Bilder zu finden, die Aspekte von beiden Orten einbeziehen, wie eine auf den ersten Blick widersprüchliche Situation oder etwas, das Stereotypen entlarvt?

Die Bilder, mit denen ich arbeite, verbinden sich oft auf mehr als einer Ebene. Das ist mir wichtiger als die symbolische Funktion. Es muss weder ein ambivalentes Bild sein (auch wenn es das sein kann) noch muss es Stereotype entlarven (auch wenn es das könnte). Das Foto wird nicht vorrangig als Werkzeug eingesetzt, das eine bestimmte Botschaft aussendet – neu, besser oder anders -, sondern als Ergebnis des fotografischen Aktes, zu unserer visuellen Sprache, Bilder zu verstehen, zurückgeführt wird. Es beschäftigt sich mit Ästhetik als einer visuellen Sprache, aber genauso beschäftigt es sich mit Fotografie, indem es immer sowohl Realität mit Imagination verbindet – notwendigerweise zur Aufnahme und zur Lesart des Bildes – und um unsere Gesellschaft zu reflektieren, die sich durch ihr Verhältnis zur (Un-)Sichtbarkeit vermittelt.

Eine symbolpolitische Lesart eines Bildes ist für mich ein Aspekt dabei. Ich brauche sie als Teil des Ganzen, sodass du konkrete Punkte hast, um in die Arbeit einzusteigen, aber mir geht es nicht darum, eine neue Symbolik oder neue Kommentare herzustellen. Wesentliche Dinge anzusprechen, ja, aber als Methode versuche ich, so sehr wie möglich eine vielschichtige und offenere Lesart der Bilder, die unsere Beziehung zu ihrer Herkunft adressieren, zu ermöglichen. Damit es einen Sinn ergibt, Zeit mit ihnen zu verbringen und tiefer einzusteigen, indem du dich selbst durch das, was dich umgibt, auf die Themen einlässt, die in den Bildern angesprochen werden.

Vielen Dank für das Interview.


Das Gespräch führte Vera Tollmann.





 
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