DOCUMENTA KASSEL 16/06-23/09 2007

„Es lohnt sich, Bildungsarbeit mit künstlerischer Bildung zu verzahnen.“ - Ayse Güleç im Interview


Mit einem Novum bestach die documenta 12 schon eineinhalb Jahre vor der Eröffnung: Zum ersten Mal in der Geschichte der documenta bestand der Beirat aus Kasseler BürgerInnen. Ayşe Güleç (Jahrgang 1964), Sozialpädagogin und Leiterin des Bildungs- und Beratungsbereiches im Kulturzentrum Schlachthof, wurde zu seiner Sprecherin. Im Interview berichtet sie davon, wie wichtig das lokale Wissen für die Weltausstellung war.


Frau Güleç, wie schwierig war es für Sie als documenta 12
Beiratssprecherin, die Interessen der 40 lokalen ExpertInnen des Beirats 100 Tage zu koordinieren? Schließlich hatten Sie es mit einer sehr heterogenen Gruppe zu tun.


Das stimmt, aber so schwierig war es gar nicht. Schwierig war es deshalb nicht, weil es vielmehr darum ging, die verschiedenen Stimmen und das lokale Wissen aus dem Beirat aufzunehmen. So wie die Beiratsmitglieder bei der Entwicklung von eigenen Aktivitäten mit Einzelpersonen, so habe ich auch sehr viel Unterstützung von den rund 40 Mitgliedern des Beirats erhalten.


Sie haben sich selber organisiert. Wie haben Sie die Arbeit in der Gruppe erlebt?

Die 40 verschiedenen Personen haben wir persönlich gefragt, ob sie Lust und Interesse haben, ihre Ideen in die documenta einzubringen und mit ihrem lokalen Wissen und Kontakten die documenta im Vorfeld zu gestalten. Mit ihren beruflichen und persönlichen Kontakten waren sie es, die die Fragestellungen in der Stadtgesellschaft vermittelt und multipliziert haben – hier spielten auch die Beiratsaktivitäten eine besondere Rolle. Die Mitglieder wurden eingeladen, an dem Prozess der documenta teilzunehmen, ihr besonderes, spezifisches, lokales Wissen der documenta zur Verfügung zu stellen, ihr zu schenken. Die AusstellungsmacherInnen haben von dem lokalen Blick und den Perspektiven der Beiratsmitglieder gelernt. Ohne den Beirat würde die Ausstellung nicht so sein.

Schließlich war der Beirat auch eine Arbeitsgruppe, deren Aufgabe es war, die Leitfragen auf die Stadt anzuwenden und ihre Bedeutung für Kassel herauszuarbeiten. Aber auch weiter zu gehen und die abstrakten Fragestellungen in Aktivitäten zu übersetzen. Dazu brauchte es einen Rahmen, in dem das Arbeiten miteinander auch möglich war. Diese Form der Auseinandersetzung habe ich in der ganzen Zeit als sehr sehr angenehm und spannend empfunden. Die Beratung stand im Vordergrund und nicht ‚das muss so und so sein‘, sondern eher hinzuhören, wie wollen sie es machen, um gemeinsam Ideen weiterzuentwickeln. Das war für mich ein sehr interessanter Prozess und ein gelungenes Beispiel dafür, wie Wissen gemeinsam geteilt und generiert werden kann.


Bleiben Wünsche für ein „nächstes Mal“ zurück?

Wenn wir noch einmal die Gelegenheit bekämen, das zu tun, wäre die Frage, ob man dann mehr Personen haben müsste, um die Ausstellung im Vorfeld in die Stadt zu tragen und somit Wege der Partizipation an der Ausstellung und an den künstlerischen Arbeiten zu vervielfachen. Meine Erfahrung in den letzten zwei Jahren hat gezeigt, wie wichtig diese lokale Anbindung der documenta-Austellungen ist. Auch zukünftig muss dieses Prinzip der Zusammenarbeit mit lokalen Gruppierungen weiterhin stattfinden. Ich halte dieses Prinzip der Partizipation, der Aktivierung und der Zusammenarbeit im Bereich der ästhetischen und kulturellen Bildung für sehr wichtig, damit auch künftig die documenta-Ausstellungen nicht unvermittelt als ein Ufo-Ereignis erlebt werden.



Foto: Isabel Winarsch
Wie eng war die Zusammenarbeit mit der künstlerischen Leitung der documenta 12 in diesem Kontext? Wie viel Freiraum blieb in der Gestaltung der Prozesse?

Es war ein gemeinsamer Prozess mit der documenta Leitung, wobei ich den Kontakt als sehr eng bezeichnen würde. Ruth Noack, Roger M. Buergel sowie Wanda Wieczorek und andere aus dem documenta 12-Team waren bei allen monatlichen Beiratssitzungen dabei. Das fand ich sehr schön, weil es sehr partnerschaftlich, Hand in Hand ablief. Gemeinsames bewegen, Fragen stellen und verwerfen. Ich bin froh, dass das so möglich war. Bezüglich der Aktivitäten gab es viel Freiraum und keine Einschränkung, sondern eher Unterstützung, denn da waren ja auch die Beiratsmitglieder die ExpertInnen.


Zum 1. Mal wurde der Beirat aus Kassel heraus geboren. Ist die Öffnung zur Stadt gelungen?

Die Gründung eines solchen Beirats ist nicht nur eine Geste, es bedeutet sehr viel mehr, wenn sich eine Kunstinstitution auf diese Weise öffnet und Dinge, Themen, die es in dieser Stadt gibt, wertschätzend wahrnimmt und aufnimmt. Diese Bedeutung ist in Kassel angekommen.

Auch die Zusammenarbeit mit den KunstvermittlerInnen der documenta ergänzte und erweiterte unsere Vermittlungsarbeit in der Stadt. Diese Projekte der KunstvermittlerInnen waren ein wichtiges Band, um die Themen und Fragen verschiedenster Bevölkerungsgruppen mit der Ausstellung zu verbinden und in Austausch zu bringen. Wenn die Ausstellung den Betrachter in den Mittelpunkt stellen wollte, dann haben wir mit dem Beirat und der Kunstvermittlung viele konkrete Bezüge ermöglicht.


Können Sie das konkretisieren?

Viele der Rückmeldungen von Einzelpersonen oder auch von engagierten Kultureinrichtungen und Initiativen und Netzwerken stellten fest, dass die Praxis des Beirats eine wichtige Basis für Kassel und dessen Bevölkerung ist, weil damit die Vorbedingungen und der Boden für die Großausstellung documenta geschaffen worden ist. Über den Beirat wurden die Kontakte zu verschiedensten lokalen Institutionen, Initiativen und verschiedenen Gruppierungen mit direkten Gesprächen und Einladungen aufgenommen. Und dabei haben wir immer wieder das Feedback erhalten, wie wichtig diese Ansprache und Einladung ist.


Haben Sie sich in Buergels Konzept der „Migration der Formen“ wieder gefunden?


Bei der Migration der Formen geht es für mich nicht nur darum, sich auf die Wurzeln zu besinnen, sondern sich darauf zu besinnen, dass die Formen viel mit dem Gegenseitigen, dem Dialog und dem Austausch zu tun haben. Insofern finde ich, dass das Konzept der Ausstellung konsequent und richtig ist, die einzelnen Kunstwerke in einen Dialog zu stellen und dadurch Korrespondenzen von einzelnen Werken verschiedener Epochen und Erdteile aufzuzeigen.

Vor dem Motiv Migration der Form haben wir im Vorfeld zu den drei Leitfragen (Ist die Moderne unsere Antike, Was ist das bloße Leben?, Was tun?, Anm. d. Red.) gearbeitet. Diese Fragen waren als Anregung für Diskussionen zu der Bedeutung der Fragen in Kassel besonders wichtig. Aus diesen Diskussionen entstanden die Aktivitäten, die die Leitfragen konkretisiert haben. Als die Ausstellung dazu kam, wurden sie von der Migration der Formen abgelöst. Insofern brachte für mich die Ausstellung zusätzliche Perspektiven und künstlerische Positionen zu Fragen, mit denen wir uns in der Stadt und im Stadtraum beschäftigt haben. Und die Ausstellung war daher auch sehr gut dafür geeignet, sie als Medium und als Ort der Bildung und Selbstbildung zu nutzen und Wissen zu teilen, auszutauschen.


Und dann kamen ab dem 16. Juni die BesucherInnen…

Wir haben uns sehr bemüht, die Ausstellungsorte mit den Orten der Beiratsaktivitäten im Stadtraum in Balance zu bringen. Manche der documenta Gäste kamen zufällig zu den Aktivitäten, manche suchten auch konkret die Beiratskativitäten auf. Ich vermute, dass 10 %, höchstens 20 % den Kontakt zu den Aktivitäten hatten. Vermutlich fehlte den meisten die Zeit.

Aber es gab Gäste, die sich auch für diese Seite der Ausstellung interessiert und daher den Kontakt gezielt aufgesucht haben. Vor einiger Zeit gab es einen Workshop im Bildungszelt zu Antirassismus und Postkolonialismus im Bildungsbereich. Und da war eine dreiköpfige Familie, die eigentlich nur zur Ausstellung gekommen ist. Das Seminar wurde vom Bildungszelt in Kooperation mit den KunstvermittlerInnen umgesetzt und die Familie hat die gesamten zwei Tage daran teilgenommen. Ich finde das toll, weil das auch zeigt, dass das Publikum sehr interessiert war und aufnahm, was in der Stadt geschah.



Foto: Isabel Winarsch
Wie wichtig war die Zusammenarbeit mit den KünstlerInnen?

Ruth Noack und Roger M. Buergel haben den KünstlerInnen den Vorschlag unterbreitet, Kontakt mit uns aufzunehmen. Viele haben das dankbar angenommen. Vor allem jene, die die Idee hatten, hier in Kassel etwas zu machen. Andere wollten den Beirat einfach 'mal kennenlernen, diskutieren und ein Feedback bekommen.

Im Kontakt mit den KünstlerInnen ging es darum, lokales Wissen auszutauschen, weiterzugeben und bestimmte Inhalte, die für künstlerische Werke wichtig waren, gemeinsam auszuarbeiten, herauszufinden. Der Beirat hatte in dieser Hinsicht verschiedene Aufgaben, zum Beispiel Türöffner für bestimmte Lebenswelten oder Einrichtungen zu sein und eine Multiplikatorenrolle einzunehmen.

Mit Andreas Siekmann haben wir zusammengearbeitet. Er hat ein lokales Beispiel für die vierte Zone hier in Kassel gesucht. Das musste etwas Spezifisches sein, damit es funktioniert und die BesucherInnen dies auch verstehen können. Oder Danica Dakić, die das Thema der El-Dorado-Tapete mit Jugendlichen aus Kassel bearbeitet hat. Hier ging es um die Fragen, wie und welche Jugendliche sprechen wir an, wie wecken wir ihr Interesse. Und natürlich Ricardo Basbaum und sein nbp-Objekt. Im Beirat entstand die Idee, einen Ausbildungbetrieb zu finden, der 10 dieser Stahlobjekte hier vor Ort produziert und schon sehr früh diese Arbeit mit Kassel zu verbinden.


Hatten Sie kuratorischen Einfluss auf die im Schlachthof ausgestellten Arbeiten?

Hito (Hito Steyerl Anm. d. Redaktion) war letzten Sommer beim Beirat und hat ihre älteren Arbeiten dort vorgestellt und mit uns diskutiert. In einem Vorgespräch mit ihr hatte ich das Haus bereits vorgestellt und erzählt, was der Schlachthof alles an Bildungsarbeit, kultureller und politischer Arbeit sowie Vernetzungsarbeit leistet. Und hatte in dem Zusammenhang auch erwähnt, dass wir Alphabetisierungskurse für MigrantInnen anbieten. Diese Information hat dann dazu geführt, dass beide Seiten großes Interesse daran hatten, ihre Videoarbeit Journal No.1 in diesem Klassenzimmer zu zeigen. Wir hatten den Eindruck, dass ihre Arbeit dort gut kontextualisiert wird.

Zudem was es wichtig, die Einrichtung Schlachthof als einen Umschlagplatz für die Beiratsaktivitäten und als lokale Anbindung an die Ausstellung den BesucherInnen der documenta 12 transparent zu machen.


Wie wichtig ist die Geografie des Ortes Schlachthof in der Nordstadt?

Ich glaube schon, dass der Ort sehr wichtig ist. Die nahe liegende Universität rückt immer näher an Schlachthof heran. Einerseits ist dieser Stadtteil ein traditionelles ArbeiterInnen-Viertel andererseits aber so stark fragmentiert, dass man das so gar nicht mehr sagen kann. Es ist auch nicht nur ein Problembezirk, wie es so oft heißt, sondern es gibt auch dieses universitäre Flair, was den Stadtteil in dieser Kombination auch sehr interessant macht. Betrachtet man aus der Perspektive der Bildung diese Situation, dann öffnet sich genau auf dieser Ecke zwischen Schlachthof, Berufsschule und Universität ein sehr interessantes Setting. Deshalb war es auch wichtig, für das Thema der Frage nach Was tun?, das Bildungszelt genau an dieser Stelle zu platzieren. Um dort gemeinsam das Phänomen der Bildungssysteme, der Aus- und Eingrenzungsmechanismen sich anzuschauen und kritisch zu reflektieren.


Was passiert nach der documenta mit dem Schlachthof?

Sehr viel. Was wir auf jeden Fall mitnehmen: Es lohnt sich, Bildungsarbeit mit ästhetischer Bildung als eine Vermittlungsform zu verzahnen. Durch diese Erfahrung ist ein neuer Bereich deutlich geworden, der unsere bereits vorhandenen Arbeitsansätze bereichert und erweitert. Als ein Zentrum der lokalen und translokalen Kulturarbeit – und zwar von einem erweiterten Kulturverständnis ausgehend – ist auch die lokale Anbindung der documenta sehr wichtig.

Diese Erfahrung war bedeutend. Damit sollte jetzt aber nicht alles aufhören, was wir im Rahmen der documenta 12 lokal angestoßen haben. Wir werden aus dem Bisherigen viel lernen und weiterentwickeln. Für die weitere Entwicklung ist der Schlachthof als eine sozio-kulturelle Einrichtung ein geeigneter Träger.


Was macht Ayşe Güleç im Jahr 2012?

Ich werde wahrscheinlich in Kassel sein. Spannend wäre der Gedanke der lokalen Aktivierung: Wie kann man diese Form der kulturellen, ästhetischen Arbeit hier vor Ort fortsetzen. Das ist etwas, was mich sehr bewegt und was ich nicht nur im Hinblick auf die nächste documenta, sondern im direkten Anschluss zur documenta 12 fortführen möchte.

Vielen Dank für das Gespräch.


Das Gespräch führte Silke Kachtik.





 
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